Digitales Konzerterlebnis: 6 Fragen an Robert Gummlich
Kategorie: Allgemein, Events, Freunde, Inspiration, Menschen, Shows, Technologien
10. Dezember 2014
Digitales Konzerterlebnis: Robert Gummlich zur Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker
Den Bildregisseur Robert Gummlich habe ich bereits vor zehn Jahren in Köln kennen gelernt. Uns verbindet neben gemeinsam umgesetzten Medienproduktionen auch die Begeisterung für Live-Musik und ein ähnlicher Anspruch an Arbeitsweisen — fachlich wie menschlich. In den letzten Jahren hat Robert maßgeblich die Live-Übertragung von Konzertmitschnitten der Berliner Philharmoniker im Rahmen der Digital Concert Hall mitentwickelt (Hintergründe und Informationen zur DCH unterhalb). Zu seinen Erfahrungen und Selbstverständnis als Bildregisseur habe ich ihn befragt:
1. Was ist dein Anspruch an eine gelungenes digitales Konzerterlebnis?
Klar ist: Ein persönliches Live-Erlebnis ist durch nichts zu ersetzen. Es ist wie beim Kochen: Es selbst zu tun, die Dinge zu berühren und fühlen, zu riechen und schmecken und die gesamte Atmosphäre synästhetisch zu empfinden kann einfach niemals das Gleiche sein wie den gleichen Prozess im Fernsehen zu sehen und zu hören. Die Live-Übertragung, egal ob im Fernsehen oder im Internet, ist dennoch die zweitbeste Möglichkeit, an einem Live-Event teilzuhaben, wenn ich nicht selbst vor Ort sein kann (z.B. weil es zu teuer oder ausverkauft ist, meine Mobilität aus Altersgründen vielleicht eingeschränkt ist oder das Event auf einem anderen Kontinent stattfindet). Mein Ziel für ein digitales Konzerterlebnis ist also, dieses Erleben aus der Beobachter*innenperspektive mit den mir verfügbaren fernsehtechnischen Mitteln so intensiv wie möglich zu gestalten. Und dabei die Inhalte, sprich meine Künstler*innen und die sie umgebenden Räume, möglichst optimal zu präsentieren.
Als Beispiel möchte ich kurz beschreiben, wie meine liebste Kritik nach einer Übertragung klingen könnte: “Der Dirigent ist ja unglaublich intensiv gewesen heute, aber als der Hornist sich verspielt hat, hat er kurz ganz schön böse geschaut. Und die junge Sopranistin hat ja sogar in den höchsten Tönen noch ein Lächeln auf dem Gesicht gehabt, als sei da nichts dabei. Ich hatte echte Gänsehaut. Und als sie sich dann verbeugt hat und gelacht hat zum Orchester, da war sie wieder so wunderbar natürlich und gelöst, wie ein junges Mädchen. Vorher wirkte sie so ernsthaft und ganz erwachsen.”
Kein Wort davon beschreibt unsere Kamera- oder Regiearbeit, die Einstellungsgrößen, Schnittfrequenzen, Kranfahrten oder sonstige technische Hintergründe unserer Arbeit. Die Zuschauenden waren im Flow des Events, gefesselt von der Intensität der künstlerischen Leistung auf der Bühne, sogar vor dem Bildschirm. Fast so, als säßen sie selbst im Saal. Das ist das erklärte Ziel meiner Arbeit: Meine Künstler*innen und ihre Leistungen so gut aussehen zu lassen, wie es mir möglich ist. Die Basis dafür ist mein tiefer Respekt vor ihrer Leistung und den sich daraus ergebenden Notwendigkeiten für unsere Arbeit.
Noch eine kurze Anekdote zu Zuschauenden, wie ich sie mir wünsche: Bei meiner Arbeit an der Wiener Staatsoper, wo ich im vergangenen Jahr das Streaming-Team aufbauen durfte, ist uns ein ganz besonderer Zuschauer begegnet. Dieser Herr sieht sich nicht nur im Rahmen seines Jahres-Abonnements regelmäßig Opern in der Wiener Staatsoper an (in der Mitte des Parketts auf einem wirklich ausgezeichneten Platz). Er schaut sich regelmäßig ein paar Tage später die gleichen Opern noch einmal im Live-Stream an (wir übertragen dort in der Regel die 3. Vorstellung einer Serie), weil er die Qualität der Tonmischung und die Naheinstellungen und Bildführung der Regie genießt. Offensichtlich gelingt es uns, sein Erleben der Oper mit unseren Übertragungen noch zu intensivieren! Und dieser Herr ist bereit, für dieses Erleben seinen Beitrag zu bezahlen, weil er etwas erhält, was ihm das Fernsehen nie bieten kann.
2. Worin liegt die Herausforderung am Live-Stream?
Die meisten Livestreamings haben kleine Budgets, die nicht mit Fernsehbudgets vergleichbar sind. Dennoch werden die Ergebnisse unserer Übertragung mit professionellen Fernsehproduktionen verglichen. Denn diese haben die Seherfahrung unsere Zuschauenden über Jahrzehnte geprägt. Die Herausforderung besteht also darin, mit einem vergleichsweise kleinen Kernteam (5 — 8 Personen beim Streaming im Vergleich zu 30 — 45 Personen bei der Fernsehübertragung) und reduziertem technischen Aufwand ein vergleichbar intensives Erlebnis zu gestalten. Das erfordert natürlich eine Anpassung unseres gelernten Fernsehhandwerks.
Was uns dabei hilft ist die Einbettung der Streaming-Abteilung in die entsprechenden Häuser: Wir sind in Berlin ebenso wie in Wien eine eigene Abteilung und kommen nicht als Fremde zu den Musiker*innen. Weil wir die Abläufe besser verstehen als Menschen, die nur einmal im Jahr in einem Konzertsaal arbeiten, können wir besser Rücksicht nehmen auf die Notwendigkeiten der künstlerischen Abläufe. Und wir werden als Verbündete der Musiker*innen wahrgenommen, wir haben im besten Fall ihr Vertrauen. Denn eines muss man sich klar machen: Jede*r weiß im 21. Jahrhundert aus ungezählten Youtube-Clips, wie schnell man vor der Kamera schlecht aussehen kann, wie gnadenlos genau die Kameras heute hinschauen und hinhören. Das schafft große Unsicherheiten, auch wenn sie nur unterschwellig sind und selten eingestanden werden. Und da wir es mit Künstler*innen der absoluten Weltspitze in einer intensiven Konkurrenzsituation zu tun haben, reichen manchmal schon kleine Nuancen oder Ablenkungen, um die Einmaligkeit und damit schlimmstenfalls auch den Marktwert zu gefährden.
Umgekehrt, also positiv formuliert: Unsere Künstler*innen vertrauen uns, dass wir sie bestmöglich aussehen lassen, verstehen und schützen. Daher können sie ein klein wenig entspannter und konzentrierter ihre Leistung bringen als bei einer typischen Fernsehübertragung, die breitschultriger auftritt, die Abläufe stört und nicht im Kontakt mit den Künstler*innen und ihren Bedürfnissen steht. Und damit meine ich nicht nur die Bedürfnisse der großen Solist*innen, sondern auch die einer Tutti-Violine am 8. Pult hinten links. Ich glaube also, bei uns spielen die Künstler*innen ungestörter und daher ist das Geschehen vor der Kamera ein wenig intensiver. Da macht es nicht viel aus, wenn unsere Übertragungswerkzeuge sich den Budgets anpassen müssen. Und das schätzen auch unsere Zuschauenden, denn die bezahlen den Abo-Preis nicht für die Vorführung von neuester Showtechnik oder Kameratypen, sondern für das Erleben einer einmaligen künstlerischen Leistung.
Digital Concert Hall // Video: Berliner Philharmoniker
3. Worin liegt der Unterschied zwischen Live-Stream und Fernsehen?
Internetstreamings sind in meinen Augen ein Schritt hin zur Demokratisierung von medialen Inhalten, wie man sie schon länger im Journalismus (Stichwort: Blogger) wahrnehmen kann: Die gleichen Menschen, die die (künstlerischen) Inhalte herstellen, können darüber entscheiden, sie weltweit ihrem Publikum anzubieten und den Preis dafür zu bestimmen.
Und sie verfügen persönlich über die Verbreitungswege und ‑mechanismen. Sie sind nicht mehr auf die Beurteilung durch Redakteur*innen oder Produzent*innen angewiesen, die eine riesige, extrem teure Mechanik zur Verbreitung verwalten und Einfluss nehmen auf die inhaltliche Auswahl. Die Entscheidungsstrukturen der Internetstreamings sind wesentlich schlanker und schneller als bei Rundfunkanstalten. Auch werden völlig andere Zuschauerzahlen angestrebt: Das Fernsehen zielt auf ein Millionenpublikum in einem regionalen Raum, für Weltmarken wie die Berliner Philharmoniker ist schon eine Zahl um die 4000 Zuschauer weltweit bei einem Live-Event ein großer Erfolg, denn damit hat sich die Zuschauerzahl an diesem Abend verdreifacht im Verhältnis zum Saalpublikum! Und sie erreichen ein weltweites, geneigtes Publikum wesentlich leichter als der Rundfunk, für den schon ein einziges Projekt, das weltweit gesendet wird (wie eine Fußball-WM oder Olympiade) mit einem Vorlauf von mehreren Jahren Organisationsaufwand und immensen Kosten verbunden ist.
Möglich wird dies durch die vorhandene Infrastruktur des Internets, die eine demokratische Distribution möglich macht. Deswegen ist auch für die Verbreitung von Kultur im Internet die Netzneutralität ein höchst wertvolles Gut. Und außerdem werden Internetstreamings möglich durch schlankere, spezialisiertere Produktionsverfahren, die wir nach und nach entwickeln. Wobei hier ein bisschen die Gefahr besteht, dass die Honorare für unsere Arbeit verringert werden, weil es sich “nur” um ein Internetstreaming handelt und im Moment sehr oft um Pilotprojekte. Das ist aber zum Glück bei meinen Auftraggebern nicht mehr der Fall, die wissen die Qualität der Bildregie auch finanziell zu schätzen. An dieser Stelle einen großen Dank dafür!
4. Worauf bist du angewiesen, um einen guten Job als Live-Regisseur zu realisieren?
Bevor ich die Frage beantworte, möchte ich gerne mein Verständnis meines Jobs beschreiben. Es gibt Live-Regisseur*innen, die ihre kreative Bedeutung und künstlerische Leistung innerhalb der Produktion sehr hoch bewerten und sich selbst als große Künstler*innen präsentieren und verkaufen. Das führt dann häufig zu Konflikten mit den Bedürfnissen der Künstler*innen auf der Bühne. Dem möchte ich meine Auffassung meines Berufs gegenüberstellen: Ich glaube, wir üben ein hochintelligentes Handwerk aus (eine Haltung, die ich nicht selbst erfunden, sondern während meiner Assistenz-Zeit von einem in meinen Augen sehr guten Regisseur übernommen habe). Die Künstler*innen stehen bei uns VOR der Kamera, unsere Aufgabe hinter der Kamera ist es, ihre Leistung so gut wie möglich zu verstehen. Wir stehen also im Dienste unserer Künstler*innen. Als Bild dafür verwende ich in Seminaren gerne die Vorstellung von einem Übersetzer, der ein Shakespeare-Sonett ins Deutsche übersetzen soll: Reine Technik (Google-Translator) führt zu überhaupt nichts. Der Übersetzer muss zwei Sprachen in ihrer sprachlichen Tiefe und Schönheit verstehen und einsetzen können und dazu noch Shakespeares Intentionen und Witz! Dennoch ist und bleibt das Gedicht, egal ob in Deutsch oder Englisch, zu jedem Zeitpunkt ein Werk Shakespeares. Die Leistung des Übersetzers für den künstlerischen Genuss wird dadurch aber nicht abgewertet, sondern ist für die deutschsprachigen Lesenden absolut wesentlich und unersetzbar.
Jetzt zur Antwort, worauf ich angewiesen bin bei meinem Job. Kurz und knapp: Auf mein Team! Eigentlich gibt es dazu fast nichts mehr hinzuzufügen, so selbstverständlich sollte diese Erkenntnis sein. Denn keine*r macht eine Live-Übertragung alleine! No way, never ever! Ich beiss mir immer auf die Lippe, wenn sich jemand vor mich stellt und sagt: “ICH hab letzte Woche eine Oper übertragen / MEINEN Film auf dem Festival präsentiert” und denke mir: Tatsächlich? Du hast alle Kabel gezogen, bist die LKWs gefahren, hast alle Kameras aufgebaut, das Licht angeschlossen, das Mikro gehalten, die Listen getippt, die Hotels gebucht, die Künstler*innen betreut, das Catering gekocht undundund…???? Respekt, Kollege, ehrlich…
Und gerade während einer Live-Übertragung, bei der nichts “in der Postproduktion gefixt” wird, sondern alles auf Anhieb sitzen muss, bin ich zu 100% darauf angewiesen, dass jede*r im Team mit voller Konzentration, Leistungsbereitschaft und Begeisterung von Anfang bis Ende dabei ist. In unseren reduzierten Stream-Teams, bei denen jede*r mehrere Aufgaben übernimmt, darf es keine menschlichen oder fachlichen Fragezeichen geben, da bin ich unglaublich sensibel. Und wenn man sich in der Regieposition diese 100%ige Abhängigkeit von seinem Team bewusst macht, relativiert sich die sogenannte Machtposition der Regie sehr angenehm. Ich betrachte sie ohnehin eher als eine – zugegebenerweise zentrale – Rolle innerhalb eines notwendigen Hierarchiegefüges für einen klar begrenzten Zeitraums. Dieses Bewusstsein schützt ganz gut vor Überheblichkeit. Leider keine seltene Erscheinung in unserem Beruf…
Und worauf wir natürlich immer angewiesen sind: Auf die Leistung unserer Künstler*innen! Denn wenn diese nicht ihr Potenzial optimal abrufen können, können wir den besten Job der Welt gemacht haben und dennoch bleibt das Gesamtergebnis in der Mittelmäßigkeit. Egal ob wir UHD, HD, 4K, 5.1‑Surround, Cinemascope oder sonstige Superlative außen drauf schreiben.
5. Wie hast du dich für dieses neue, einmalige Kamera-Übertragungssystem inspirieren lassen – wie kam das zu Stande?
Genau genommen gab es für dieses Kamera-System keine Inspiration, weil es weltweit das erste war, das so eingesetzt werden sollte. Da der Bau des ersten Studios der DCH relativ schnell erfolgen musste (aus Gründen des Sponsorings), waren wir als Regieführende in der Planung auch noch nicht involviert. Und vielleicht war das auch gut so, denn sonst hätten wir wahrscheinlich versucht, an unserem Handwerk festzuhalten. So waren wir schlicht gezwungen, umzudenken oder zu verschwinden: Wir standen vor einem fertigen System, das niemand kannte, mit dem noch niemand Erfahrungen hatte und das eine deutliche Veränderung (und auch Verabschiedung mancher Teile) unserer Arbeitsweise erforderte. Wir waren gefordert, unsere Arbeitsweise neu zu erfinden. Und zu forschen, wo die Möglichkeiten, Vorteile und Grenzen dieses Systems liegen. Immer mit den ästhetischen und qualitativen Kriterien, die wir von unseren Fernsehjobs im Kopf hatten.
Da hat mir der Satz meines Klavierlehrers, ein wichtiger Mentor in meinem Leben, geholfen: “Schwimmen lernt man nur im Wasser!” Damit hat er uns immer auf die Bühne geschickt, wenn wir beim Klassen-Vorspiel Lampenfieber hatten.
Also: Augen zu, oder besser: auf! und reingesprungen. Wir hatten allerdings auch eine Vorlaufphase von einem halben Jahr vor der ersten Liveübertragung, so konnten wir alles Mögliche ausprobieren. Das war ein großer Luxus.
Gleichzeitig kommt uns die Situation auf der Bühne entgegen bei der Verschlankung von Strukturen: Letztlich wiederholen sich bei Konzertübertragungen die Einstellungen immer wieder (das ist übrigens, wenn man ehrlich ist, nicht nur im Konzertsaal so). Denn der musikalische Apparat sitzt in dieser Form schon seit Jahrhunderten auf der Bühne und spielt mit den gleichen Instrumenten die gleiche Musik. Das Faszinierende für die Liebhaber*innen dieser Musik kommt über die einzigartige, immer wieder neue und andersartige Interpretation der Musik, damit haben wir aber in unserer Arbeit weniger zu tun. Wir können also in unserem System während der Proben für jede Kamera beliebig viele unterschiedliche Einstellungen der Instrumentengruppen als Snapshots speichern und dann punktgenau (während der Livesendung im Sekundentakt) abrufen. Denn die 1. Flöte sitzt immer am gleichen Platz. Dennoch muss jede Vorstellung neu programmiert werden, denn die Orchesteraufbauten wechseln, eine Mozart-Sinfonie ist keine Wagner-Ouvertüre und verwendet andere Instrumentierungen. Und für besondere Situationen wie Solo-Konzerte oder Chöre können wir inzwischen im Ausnahmefall auch ein bis zwei Zusatzkameras mit Kameramensch im Saal positionieren, das erweitert das System sehr positiv.
Bei den Streamings der Opern an der Wiener Staatsoper, die seit Herbst 2013 laufen, sieht es dagegen ganz anders aus: Auf einer Opernbühne werden selbst die besten und präzisesten Akteur*innen niemals an der gleichen Stelle singen. Daher arbeiten wird dort mit zwei Operator*innen, die abwechselnd immer für die nächste Einstellung zuständig sind und beide Zugriff auf alle Kameras haben. Genau genommen haben mich die Verantwortlichen der Wiener Staatsoper nach einem Besuch in Berlin gefragt, ob ich in der Lage bin, unser Berliner Modell auf die Anforderungen der Wiener Staatsoper anzupassen und die Teams dort auszubilden. Wieder ein Sprung in tiefes, kaltes Wasser!
Jetzt, nach mehr als 20 Übertragungen in den letzten 12 Monaten kann ich mit Gewissheit sagen: Wir können auch Opern mit Remote-Systemen und kleinem Team anspruchsvoll übertragen, überhaupt kein Problem! Wobei sich die Gestaltung von den typischen Fernsehaufzeichnungen unterscheidet, wir haben den Schnittrhythmus beruhigt und lassen den Akteur*innen mehr Raum auf der Bühne und für ihr Spiel. Das halte ich auch für angemessener: Eine hohe Schnittfrequenz von extremen Naheinstellungen, typisch fürs Fernsehen des 21. Jahrhunderts, wie sie z.B. die Metropolitan Opera in New York weltweit auf die Kinoleinwände bringt, halte ich für ästhetisch problematisch: Eine Opernsängerin, deren Kopf auf einer Kinoleinwand mehrere Meter vergrößert singt, empfinde ich in den meisten Fällen als grotesk entstellt. Dabei geht es nicht um die Frage von richtig oder falsch, sondern immer nur darum: Was ist dem Inhalt und dem Charakter angemessen? Diese kluge und feine Unterscheidung verdanke ich einem hervorragenden Lichtsetzenden Kameramann und gutem Freund, Alexander Törzs (BVFK), der mich bei meinen Projekten regelmäßig berät und unterstützt.
6. Was war dein bisher größter Fehler und was hast du daraus gelernt?
Das wird jetzt eine sehr persönliche Antwort: In einer hohen Belastungssituation habe ich meine Selbstbeherrschung verloren und mich absolut im Ton gegenüber einer Produktionsleiterin vergriffen. Klar und ehrlich gesagt: Wir haben uns angeschrien.
Ich war der Meinung, meine Notwendigkeiten finden zu wenig Beachtung, ich empfand höchsten Druck, fühlte mich erschöpft und überfordert und ich betrachtete eine spezielle, zusätzliche Belastung als bösartige Missachtung meiner Bedürfnisse und Ignoranz meiner Arbeit gegenüber.
Ein Satz mit sehr vielen “Ichs”. Ein sehr großer Fehler. Oder gleich mehrere: Das wertvolle Verhältnis zu einer Kollegin zu belasten für eine im Nachhinein belanglose Arbeitssituation; meine Bedürfnisse in den Mittelpunkt einer Produktion zu stellen; überlastet und unüberlegt zu handeln; die Liste kann jede*r für sich vervollständigen. Ich möchte zu meiner Verteidigung sagen, dass mir so eine Situation nie wieder vorgekommen ist.
Am nächsten Tag habe ich mich entschuldigt. Seither versuche ich durch regelmäßige, besonders aufmerksame Kommunikation, inzwischen über 5 Jahre, das erschütterte Vertrauen wieder aufzubauen. Ich bin mir allerdings darüber im Klaren: So etwas vergisst niemand, ich auch nicht! Wir kommen heute dennoch sehr gut klar miteinander.
Ich habe mich später vor allem aus persönlichen Gründen mit der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg auseinander gesetzt, weil die vielen Konflikte in unserem Leben so häufig durch misslingende Kommunikation entstehen. Und ich mich so oft gefragt habe, wieso Menschen, die sogar im Prinzip ähnliche Ziele und Wünsche haben, sich nicht so darüber austauschen können, dass eine Win-Win-Situation für alle entsteht. Die wertschätzend-liebevolle Gedankenwelt von Marshall Rosenberg, die eher eine Weltanschauung und weit mehr ist als eine Kommunikationsmethode, möchte ich hier unbedingt für unser Berufsfeld empfehlen. Unser Berufsalltag ist geprägt von hoher Konzentration, Anspannung und manchmal negativem Stress sowie umfangreichen, verschiedenartigen Bedürfnissen, die häufig widersprüchlich sind. Es wird viel Kritik geübt und noch viel mehr vermeintlich falsche Kritik übel genommen. In diesem Umfeld ist die wertschätzende, gewaltfreie Kommunikation das Schweizer Taschenmesser der Konfliktlösung, gerade für die Regieposition. Denn mindestens die Hälfte unserer Arbeit ist Kommunikation, wenn nicht mehr.
Robert Gummlich lebt in Berlin und ist als Bildregisseur für die Übertragung von klassischer Musik, Oper und Theater europaweit unterwegs. Er betreut drei von vier der wichtigsten Streamingprojekte im deutschsprachigen Raum: Die Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker, die WienerStaatoperLive der Wiener Staatsoper, sowie Philharmonie.TV der Kölner Philharmonie. Und neuerdings auch das Nachwuchsprojekt HomeSymphony der Mannheimer Philharmoniker. Basis seiner Tätigkeit ist die eigene künstlerische Ausbildung (Gitarre, Klavier, Querflöte, Chorgesang und Tanz) sowie das auf dieser Ausbildung basierende Studium der Ton- und Bildtechnik an der Robert-Schumann-Hochschule Düsseldorf, das neben den gestalterischen Kompetenzen auch umfangreiche technische Grundlagen vermittelt. Vor dem Schritt zur Regie arbeitete er als Regieassistent für fast alle Kultursender Deutschlands bei den maßgeblichen Klassikübertragungen des deutschen Fernsehens.
Außerdem unterrichtet er sein Handwerk an verschiedenen Institutionen (Düsseldorf, Hannover, Wien). Und profitiert täglich bei seiner Arbeit davon, dass er auch schon als Küchenjunge, Fahrradkurier, Fabrikpacker und LKW-Fahrer gearbeitet hat.
Hintergrund: Was ist die Digital Concert Hall?
Die Berliner Philharmoniker sind nicht nur ein weltweit führendes Orchester, sondern legen schon immer größten Wert darauf, technische Neuerungen nutzbringend für das Orchester einzusetzen und auch in diesem Bereich eine Spitzenposition einzunehmen. So war Herbert von Karajan Ende der 1970er an der Entwicklung der CD beteiligt. Und Karajan war es auch, der bereits in den 1950ern, beim Bau der Berliner Philharmonie, weltweit bekannt für ihre ausgewogene Akustik, Kamerapositionen im ersten architektonischen Konzept der Philharmonie vorbereiten ließ, weil er ahnte, dass die Bildübertragung für Konzerte wichtig werden würde. Außerdem hat er mit dem ZDF berühmte Konzertadaptionen im Studio verfilmt, die für unseren Berufszweig noch immer ästhetisch maßgeblich sind.
Durch die starke Veränderung der Medienlandschaft und den Rückzug der Fernsehsender und Musikproduktionsfirmen aus den klassischen Konzertsälen entstand um die Jahrtausendwende eine Lücke, die es zu füllen galt. Denn die Berliner Philharmoniker haben nicht nur ein treues Publikum in Berlin, das für einen regelmäßig ausverkauften Konzertsaal sorgt, sondern auch eine weltweite Fangemeinde, die sich um die wenigen Plätzen bei den Tourneen durch Asien oder Amerika drängelt. Es lag also nahe, mit dem Aufkommen von Internetstreamings, diese im Sinne des Orchesters zu nutzen und die Internetplattform Digital Concert Hall (DCH) zu entwickeln.
Die DCH ist die weltweit erste Internetplattform, auf der registrierte Nutzer*innen seit der Saison 2008/2009 im Rahmen eines Bezahl-Abonnements Zugang erhalten zu den HD-Live-Übertragungen aller Konzerte, die die Philharmoniker in der Berliner Philharmonie spielen. Im Anschluss an die Liveübertragungen können diese Konzerte unbegrenzt im Archiv angesehen und angehört werden. Abgerundet wird das Angebot durch Künstler*innengespräche, Hintergrundberichte, kostenfreie Streamings von Education-Projekten (auch bei den Zuhörenden muss es Nachwuchsförderung geben!) und durch ausgewähltes historisches Material. Jüngstes Beispiel hierfür ist die Aufzeichnung des Konzerts, das die Berliner Philharmoniker unter Barenboim 1989 zum Mauerfall spontan organisierten. Nach inzwischen sechs Spielzeiten enthält das Archiv mehr als 180 Konzertmitschnitte in HD auf musikalisch höchstem Niveau, ein Archiv, das so weltweit einzigartig ist. Es ist das digitale Vermächtnis der Berliner Philharmoniker.
Auch bei der verwendeten Technik ist die DCH einzigartig: Es kommt ein System von 7 Remote-Kameras zum Einsatz, die über ein speichergestütztes System von einem einzigen Kamera-Operator geführt werden. Der wichtigste Grund dafür war, dass auf der Bühne kein Kamerapersonal arbeiten sollte, das die Aufmerksamkeit der Musiker*innen durch ihre Anwesenheit beeinträchtigt oder die Audioqualität durch unabsichtliche Geräusch stört. Gleiches gilt für das Saalpublikum, dessen musikalisches Erlebnis absolut nicht beeinträchtigt werden darf durch unsere Arbeit.
Die DCH wendet sich an ein weltweites Publikum im reiferen Alter (im Vergleich zu Fernsehsendern mit der typischen “19 — 49” Zielgruppe) und hohem kulturellem Bildungsstand. Denn dieses Publikum, das auch bereit ist, für eine einzelne Konzertkarte 100 € und mehr zu investieren, hat ein Bewusstsein für die angebotene Qualität. Und die Bereitschaft und Wertschätzung, für ein Jahresabonnement mit unbegrenztem Zugang zum Archiv 150 € zu bezahlen. Außerdem ist es nicht das typische Publikum, das sich Inhalte kostenfrei und halblegal aus dem Internet “saugt”. Wir haben es also mit Liebhaber*innen klassischer Musik zu tun, außerdem mit Profimusiker*innen weltweit, die sich durch die Arbeit der Dirigent*innen und Musiker*innen auf der Bühne inspirieren und weiterbilden lassen. Und nicht zuletzt — wichtig für die Akzeptanz unserer Arbeit innerhalb des Orchesters — mit den Freund*innen und Familien der Orchestermusiker*innen, denn dieses Orchester vereint mehr als 50 Nationen auf der Bühne und hat seine Wurzeln in der ganzen Welt.
Es ist noch anzumerken, dass die DCH im Jahr 2008 die erste Plattform weltweit war (auch vor allen Fernsehsendern!), die regelmäßig hochwertige Inhalte in HD zur Verfügung stellte, lange bevor HD Standard wurde. Und heute diskutieren viele Orchester, die von der DCH angeregt wurden, “The Berlin Model”, das weltweit Maßstäbe gesetzt hat im Sinne der medialen Selbstvermarktung von künstlerischen Inhalten.